Liebe und innere Entwicklung sind
das Ziel der meisten Heldenreisen. Liebe kann die Welt verwandeln; um die Liebe
zu erringen, ist kein Weg zu mühsam, keine Aufgabe zu gefährlich. Denn die
Liebe bedeutet eine Erlösung aus Fluch und Verzauberung. Liebe ist nötig, um
unsere Gestalt zu vollenden.
Das ist eine Grundbotschaft des
Märchens, und es ist darin alles andere als realitätsfern. Es behauptet
keineswegs, die Liebe würde uns in den Schoß fallen, es leugnet nicht, dass sie
von Konflikten begleitet wird und dass es großer Anstrengungen bedarf, um sie
zu erringen. Das Fremde und Unbekannte im geliebten Menschen und die Angst vor
dem anderen Geschlecht sind ihm stets wiederkehrendes Thema. Der Vorwurf
feministisch orientierter Kritiker, Märchen seien frauenfeindlich und würden Geschlechterrollen
zementieren, basiert allerdings auf einer einseitigen und von Vorurteilen
getrübten Sichtweise und entbehrt jeder Grundlage.
Es ist natürlich möglich, Märchen
als eine Erzählform zu verstehen, die eine äußerliche Form der Realität
widerspiegelt. Wenn dem so ist, dann ist es wahr, dass die Frau in vielen
Märchen als Duldende oder daheim auf den Märchenprinzen Wartende (Dornröschen) gezeigt wird. Dann ist es
wahr, dass oft genug Stiefmütter oder keifende, maßlose Ehefrauen (Der Fischer und seine Frau) den negativ
besetzten Part übernehmen.
Ebenso wahr allerdings ist es, dass
Aschenputtel ihr Leben in die eigenen
Hände nimmt. Dass es Gretel ist, die
die Hexe tötet und Hänsel befreit. Dass
die sieben Raben von ihrer Schwester,
die mutig die vielfältigsten Gefahren auf sich nimmt, gerettet werden. Dass Schneeweißchen und Rosenrot tatkräftig
zupacken, und dass es die Schöne ist,
die das Tier erlöst.
Und was ist andererseits zu dem
negativen Bild zu sagen, das uns die Märchen von Männern erzählen? Wie steht es
mit der Aufforderung, den Froschkönig
an die Wand zu werfen? Mit all den Vätern, die davon besessen sind, ihre eigenen
Töchter zu heiraten? Mit der Warnung vor dem Mann in Rotkäppchen oder der blutrünstigen Zeichnung eines Blaubart?
Wenn es wahr ist, dass Märchen
frauenfeindlich sind, dann muss konsequenterweise zugegeben werden, dass sie
mindestens ebenso männerfeindlich sind.
Wenn es hingegen nicht um die
äußerliche Abbildung von Realitäten, sondern um innere Wirklichkeiten geht,
wenn also, mit anderen Worten, nicht der Kuss des Prinzen das passive Dornröschen erlöst, sondern Dornröschen eine Phase der Metamorphose,
der Verwandlung in eine Frau durchmacht und anschließend die Dornenhecke – ihre Dornenhecke, die sie bislang
geschützt hat! – von selbst zurückweicht, weil die Zeit für einen Prinzen reif
ist, dann gehen solcher Art Vorwürfe an der Sache vorbei. „Nicht Wirklichkeitsschau,
sondern Wesensschau ist das Eigentliche, was die Volksmärchen uns schenken“,
sagt der Märchenforscher Max Lüthi.
Sicherlich gibt es einzelne
Märchen, die mit Vorsicht zu genießen sind, weil man sie so oder so
interpretieren kann; spontan fällt mir hier der Typus Der Widerspenstigen Zähmung ein, aber auch dem Blaubart-Motiv bringe ich keine große Sympathie entgegen. Als
Gattung jedoch muss man das Märchen vom Vorwurf des Sexismus freisprechen.
(Der Text ist eine bearbeitete Fassung eines Artikels, der ursprünglich
im Märchenspiegel 2/2002 veröffentlicht wurde)
Ich wünsche allen Lesern einen
guten Rutsch und ein frohes neues Jahr!
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Gunnar